Das Erzgebirge profitiert viel von der Europäischen Union

Susann Thiele vom Europe Direct Informationszentrum über EU-Skepsis und das Thema Europa im Unterricht
Annaberg-Buchholz. Dem sachsenweit einzigen Informationszentrum der EU im ländlichen Raum drohte die Schließung. Wie es doch noch anders kam, was die Einrichtung eigentlich macht und wie die Erzgebirger zur Union stehen, darüber sprach Michael Urbach mit Susann Thiele. Sie leitet das Zentrum in Annaberg-Buchholz.

Freie Presse: Die letzten Wahlen, ob auf Bundes- oder Kommunalebene, haben gerade auch im Erzgebirge Europakritikern Aufwind gegeben. Wie europaskeptisch sind die Menschen hier nach Ihrer Erfahrung?

Susann Thiele: Skeptisch würde ich es nicht nennen, das ist zu negativ. Aus meiner Erfahrung mit Menschen, die über die EU schimpfen, fehlt oft eher Wissen über die Zusammenhänge in Europa, warum bestimmte Entscheidungen getroffen werden. Oder es gibt Schwierigkeiten mit Behörden auf Landes- und Bundesebene, was dann auf Europa gemünzt wird. Als Folge wird dann versucht, die EU in ein schlechtes Licht zu rücken. Grundsätzlich ist es aber so, dass Beschlüsse auf EU-Ebene langfristig Vorteile bieten und das Leben vereinfachen sollen. Das ist nicht für jeden immer gleich auf den ersten Blick ersichtlich.

Und da kommen Sie ins Spiel.

Wir vom Europe Direct Informationszentrum versuchen vor Ort anzusetzen und das komplexe Konstrukt EU mit seinen Gesetzen und Informationen so verständlich wie möglich an die Bürger zu bringen. Das geschieht in verschiedenen Medienformen oder Veranstaltungen, aber wir gehen beispielsweise auch direkt an Schulen. Auch wenn es oft nicht den Anschein macht, aber bei jungen Menschen gibt es in den letzten Jahren wieder mehr Interesse an Politik im Allgemeinen und auch an der EU.

Woran machen Sie das fest?

Etwa an Bewegungen wie den Pulse-of-Europe-Demos an Sonntagen, die es auch in Chemnitz und Zwickau gab. Auch wenn sie noch sehr klein sind: Es tut sich was. Aber vor allem: Schulen und Lehrer kommen verstärkt auf uns zu. Europa war im Lehrplan vor Jahren nur ein ganz kleiner Teil. Das ist deutlich mehr geworden. Da wird unser Angebot gern angenommen und es ist eine Abwechslung, wenn jemand von außen im Unterricht darüber spricht.

Der Klassiker Gurkenkrümmungsverordnung oder andere Regelungen: Das eine oder andere, das von der EU kommt, wird als Gängelung empfunden. Welche Vorteile bringt die EU den Erzgebirgern? Anders gefragt: Wie sähe das Erzgebirge ohne EU aus?

Es gäbe etwa Kontrollen an der Grenze zu Tschechien mit Pass- und Autokontrolle, ein großer Zeitfaktor. Man stelle sich das mal drei vor, wenn man zum Beispiel nach Ungarn in den Urlaub fährt. Oder Auslandsaufenthalte wie bei Schüleraustausch, Auslandssemestern, Praktika oder Workcamps wären nicht mehr so einfach möglich. Die Älteren wissen es noch: Die Möglichkeiten vor 30, 40 Jahren waren ja relativ begrenzt. Außerdem würden Hunderte Millionen an Fördermitteln, die in die Region geflossen sind, fehlen. Sei es für Infrastrukturprojekte, Austausch- oder Umweltschutzprogramme. Auch Studien zur Untersuchung des Böhmischen Nebels werden zum Beispiel mit EU-Geld bezahlt. Das Erzgebirge profitiert viel von der EU, auch weil wir mittendrin liegen.

Kommt das ausreichend an bei den Leuten? Was leistet Ihr Haus?

Luft nach oben gibt es immer. Wir haben Newsletter zu Neuigkeiten in der EU, aber auch zu alltagspraktischen Fragen, sowie eine Webseite, die zum Beispiel breit zum Thema Auslandsaufenthalte informiert, und einen Facebookauftritt. Wir machen erzgebirgskreisweit kostenlos Veranstaltungen an Schulen. Viele Lehrer kommen regelmäßig auf uns zu, da sie positive Erfahrungen gemacht haben. Obwohl die Angebote wie Unterrichtseinheiten oder Informationsmaterial kostenfrei für die Schulen sind, ist das Feedback verhalten. Das sollten viel mehr Lehrkräfte nutzen. Denn bei den Schülern merke ich bei solchen Unterrichtsstunden oft einen Aha-Effekt. Mal unabhängig vom Thema Schulen würde ich mir aus der Region mehr Feedback wünschen, welche Europathemen die Leute hier bewegen. (Anmerkung der Redaktion: Das Annaberg-Buchholzer Europe Direct Informationszentrum ist mit nur einer Person besetzt, in Dresden und Leipzig gibt es deutlich mehr Personal.)

Das Europe Direct Informationszentrum gibt der EU vor Ort ein Gesicht. Vor Kurzem sollte es geschlossen werden, dann doch nicht. Wie kam es zu diesem Umschwung?

Die Mittel für die Zentren werden für bestimmte Zeiträume bewilligt. Wir haben uns wie immer beworben, doch die Entscheidung zögerte sich diesmal sehr lange hinaus. Kurz vor Weihnachten bekamen wir eine Absage. Wir erfuhren, dass der entsprechende Fördertopf ausgeschöpft war und es fiel die schwere Entscheidung, das Zentrum zu schließen. Anfang Februar kam die überraschende Zusage, dass nach Protesten bis hin zu Europaabgeordneten für die nächsten drei Jahre zusätzliche Finanzmittel gewährt wurden. Das ist gut, denn in Annaberg-Buchholz befindet sich sachsenweit das einzige Informationszentrum im ländlichen Raum. Und im Gegensatz zu den beiden Großstädten Leipzig und Dresden, gibt es hier keine Vereine, die Europaarbeit betreiben.

Was motiviert Sie für Ihre tägliche Arbeit?

Für viele Jugendliche ist es selbstverständlich, dass sie den Euro in der Hand halten oder nach Spanien in den Urlaub fahren. Sie haben es nie anders erlebt, es ist eine Selbstverständlichkeit. Doch ich rede auch immer wieder mit Menschen, die es noch anders kennen. Die Jungen und die Alten sollten sich einfach wieder mehr austauschen. Auch wenn gerne über die EU geschimpft wird und nicht alles perfekt ist: In den vergangenen Jahrzehnten hat Europa viel erreicht.

(Quelle: Stollberger Zeitung, 16.05.2018)