Der "Beierfelder Weg"

Die Berufswahl ist ein heikles Thema für junge Leute. Wie zeitgemäße Berufsorientierung aussehen kann, zeigt das Beispiel eines neuen Technikzentrums in Beierfeld im Erzgebirge.

VON BEATE KINDT-MATUSCHEK

GRÜNHAIN-BEIERFELD - Bernd Köhler hat nicht nur etwas von einem liebenswerten

Großvater, nein, er ist auch einer. Denn der 67-Jährige hat selbst zwei längst erwachsene Töchter und auch zwei Enkel im Alter von 22 und 12 Jahren. "Ich weiß, wie die jungen Leute ticken und wie man sie begeistern kann", ist der gelernte Werkzeugmacher überzeugt. Zudem war er über Jahrzehnte in der Lehrausbildung bei der Hock Sachsen GmbH Beierfeld, einem renommierten Unternehmen der Automobil- und Elektroindustrie, tätig. Jetzt ist er im Ruhestand. Trotzdem will er auch künftig sein Wissen, das gepaart ist mit reicher Lebens- und Berufserfahrung, an die nächste Generation weitergeben.

"Von solchen Ausstattungen kann manch kleines Unternehmen nur träumen."

Jens Kaufmann Entwicklungsingenieur

Heute ist Bernd Köhler einer von zahlreichen ehrenamtlich Tätigen, die eine

Arbeitsgemeinschaft im neuen Technikzentrum der Mittelschule in Beierfeld im

Westerzgebirge leiten. "Begreifen hat etwas mit anfassen und selbst ausprobieren zu tun", erklärt er und wendet sich den Jungs aus der Klasse 5 zu, die gerade die "flitzenden Fußballer" aus Metall bestaunen. "Ja, so etwas wollen wir bauen. Das könnt' ihr", spornt er die staunenden Steppkes an. Ihre Augen leuchten. Am liebsten würden die Elf- und Zwölfjährigen sofort loslegen. Zuschneiden, Schrauben, Schweißen, Gewinde schneiden - all das lernen sie dabei: Das A und O der Metallbearbeitung. Und dabei soll jeder Jugendliche am praktischen Beispiel für sich erkennen: "Das liegt mir oder eher nicht."

Jener Erkenntnisprozess durch praktische Tätigkeit ist das Ziel der neuen Etappe des legendären "Beierfelder Weges". Dieser begann bereits Mitte der 1960er-Jahre und verknüpfte schon damals Schule eng mit der Berufsausbildung. "Beierfeld ist ein Industriestandort mit reicher Tradition. Bis heute haben Firmen, die den Weltmarkt mitbestimmen, hier ihren Sitz", betont Bürgermeister Joachim Rudler. Damit meint er Firmen, eben wie die Turck Beierfeld GmbH, die elektronische Steuerteile für nahezu alle Branchen herstellt, oder die Hock Sachsen GmbH, die für die Automobil- und Elektroindustrie Teile aller Art aus Blech, Stahl, Guss und Kunststoff fertigt. Beierfeld trägt den Beinamen "größtes Blechdorf Deutschlands" und zählt heute mehr als 2400 Arbeitsplätze, 46 Prozent davon im produzierenden Gewerbe.

Rudler und sein Stadtrat haben bereits vor sechs Jahren die Weichen für das ehrgeizige Projekt des Technikzentrums gestellt, das in dieser Dimension in Sachsen wohl bislang einzigartig ist. Zudem haben sie sich für die Umsetzung des Vorhabens Partner aus der ortsansässigen Wirtschaft gesucht. Entstanden ist daraus ein Miteinander aus Wirtschaft und Schule, von dem künftig beide Seiten partizipieren wollen. Denn der Fachkräftemangel ist längst auch im Erzgebirge spürbar.

Die Stadt als Schulträger hat Geld locker gemacht und Fördermitteltöpfe angezapft. Für rund 2,1 Millionen Euro wurde ein Nebengebäude der Mittelschule zu einem hochmodernen Zentrum für die Ganztagsangebote der Schule um- und ausgebaut, das keine Wünsche offen lässt. Auf den vier Etagen des sanierten Hauses finden die Schüler heute eine Holz- und eine Elektrowerkstatt, die Metallbautechnik, ein Elektronikkabinett sowie einen Bereich für CNC/CAD und Automatisierungstechnik, inklusive moderner Computertechnik. Unterm Dach lässt sich ein Atelier für junge Künstler mit einer Falttür von einem Festsaal abtrennen. "Von solchen Ausstattungen kann manch kleines Unternehmen nur träumen", meint Jens Kaufmann. Der 39-Jährige ist seit drei Jahren als Entwicklungsingenieur in der Firma Turck in Beierfeld tätig. Auch er wird gemeinsam mit seinem Kollegen Jens Kielmann eines der außerschulischen Angebote betreuen. "Wir übernehmen die Elektronik", erläutert Kaufmann, dessen Firma die Einrichtung des Fachkabinetts ebenso mit konzipiert hat, wie das Gesamtkonzept, das hinter dem Technikzentrum steht.

"Wir brauchen gut ausgebildete Fachkräfte, und dieses Zentrum ist eine Möglichkeit, den Mädchen und Jungen die Chance zu geben, sich auszuprobieren und berufliche Interessen zu wecken", hebt Turck-Geschäftsführer Eberhard Grünert hervor. Für ihn verknüpft sich mit dem Angebot die Hoffnung, dass es von den Heranwachsenden aus der Region auch rege genutzt wird.

Neben den Baukosten sind etwa 350.000 Euro in Ausstattung gesteckt worden. So gibt es einen modernen Töpferbrennofen ebenso wie ein Schmiedefeuer, Werkbänke, Bohr-, Dreh-, Hobel- und Stanzmaschinen. Angeleitet werden die Schüler in den Arbeitsgemeinschaften (AG) von Fachkräften mit Berufserfahrung wie Hermann Anger oder Bernd Köhler. Beide vermitteln nicht nur ein solides Maß an Fachwissen, sondern sie sind selbst gestandene Väter, die auch mit den Macken der Pubertät umzugehen verstehen. Es hat einfach mehr Gewicht und "Wirkung", wenn ein Zwei-Zentner-Mann wie Hermann Anger, die Augen "rausschraubt". Der 59-jährige gelernte Bauklempner wird die AG Blech übernehmen. Schon wenn der Klempnermeister das Schmiedefeuer anheizt und die ersten Schläge auf dem glühenden Eisen nieder gehen, kann er sich des Respekts der Jungs sicher sein.

Diese Mischung ist es, die das Projekt so besonders macht. "Wir profitieren weiterhin vom großen Erfahrungsschatz der Älteren, weil sie uns wichtig sind. Und zugleich geben wir den Jugendlichen und der einheimischen Wirtschaft die Möglichkeit einer frühzeitigen Berufsorientierung nach heutigen Maßstäben. Es wäre schön, wenn es uns so gelingt, den jungen Leuten auch eine solide Zukunftschance in unserer Region zu eröffnen", bringt es Rudler auf den Punkt.

Das Technikzentrum an der Frankstraße will künftig offen sein für alle interessierten

Jugendlichen aus der Region. Schon jetzt gibt es Pläne für Kooperationen mit den Schulen aus der benachbarten Stadt Schwarzenberg. "Für uns als Schule ist dieses Zentrum optimal. Denn Bildung und Erziehung kann und sollte die Aufgabe vieler Menschen der Region sein. Wir alle müssen den Kindern das Gefühl geben, dass sie uns wichtig sind", so Schulleiter Wolfgang Mai. Nach den Winterferien geht die Arbeit in den AG richtig los. Dann nimmt sich Bernd Köhler zwei Stunden pro Woche Zeit, um mit "den Lausern" zu werkeln.

 

 

Quelle: Freie Presse, Ausgabe Annaberger Zeitung, 04.02.2011