EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger will Grenzschutz und Verteidigung zu europäischen Aufgaben machen

Die Wahl Macrons zum französischen Präsidenten wurde als ein Sieg Europas gefeiert. Doch, wie ist die Lage wirklich? EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) diskutierte diese Frage mit Redakteuren der "Freien Presse". Christoph Ulrich hat das Gespräch zusammengefasst.

Freie Presse: Die Europäische Union steckt ja nicht erst seit dem Brexit in der Krise. Jetzt hat Frankreich mit Emmanuel Macron einen europafreundlichen Politiker ins Präsidentenamt gewählt. Was bedeutet das für die Lage der EU?
Günther Oettinger: Europa war immer dann stark, wenn Deutschland und Frankreich mit Schwung und Tatkraft ihre Rolle als Motor der EU ausgefüllt haben. Diese Chance ist jetzt wieder da. Es kann sogar sein, dass wir mit dem Brexit im Juni vergangenen Jahres die Talsohle durchschritten haben. In Österreich wurde mit etwas Fortune ein Europa zugewandter Bundespräsident gewählt, in den Niederlanden hat Mark Rutte gegen den Rechtspopulisten Geert Wilders gesiegt und jetzt in Frankreich Macron mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Ein Wahlergebnis von deutlich über 60 Prozent ist schon eine sehr klare Aussage.

Aber damit allein ist die Europäische Union nicht über den Berg...
Wir sollten uns in der Tat nicht zu früh freuen. Macron muss es zunächst gelingen, eine handlungsfähige parlamentarische Mehrheit für eine Reformpolitik zu bilden. Und in Italien kommt es bei den Parlamentswahlen im Februar nächsten Jahres darauf an, dass der italienische Regierungschef Paolo Gentiloni mit Matteo Renzi eine Partnerschaft eingeht, und die Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo nicht die stärkste Partei wird. Wenn das gelingt, hätten wir die EU wieder stabilisiert.

Und das würde auch die Wiedergeburt der deutsch-französischen Achse bedeuten?
Es darf keine deutsche Dominanz geben, Deutschland und Frankreich müssen gemeinsam der Motor der EU sein. Es gibt viele Gemeinsamkeiten. Macron wird versuchen, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren, die Staatsquote mittelfristig zu senken und die Schuldenquote unter drei Prozent zu drücken. Fast noch wichtiger wird es aber sein, dass Frankreich und Deutschland erkennen, dass es gesamteuropäisch neue Aufgaben gibt, die mehr Europa brauchen: Digitale Infrastruktur, Verteidigung, Grenzschutz und Grenzkontrolle, Terrorismusbekämpfung, Migration. Macron hat sich im Wahlkampf offen dafür ausgesprochen und er wurde mit diesem Programm gewählt. In Deutschland sollte es dazu auch einen Konsens geben. Europa muss endlich erwachsen werden.

Nicht nur Macron fordert, die EU weiterzuentwickeln. Heißt das, wir müssen auch die europäischen Verträge noch einmal anfassen?
Das EU-Primärrecht bedarf der Zustimmung aller Mitgliedsstaaten, zum Teil muss es sogar Volksbefragungen und Volksentscheide geben. Wenn wir das jetzt angehen würden, müssten wir unsere Kräfte voll darauf konzentrieren und würden Populisten und Nationalisten ein Betätigungsfeld liefern. Außerdem wäre es nicht gesagt, ob die Vertragsänderungen überhaupt angenommen werden. Deshalb sollten wir das Vertragsrecht in der nächsten Zeit, die ohnehin schwer werden wird, nicht anfassen.

Einige Forderungen aus Frankreich werden in Deutschland kritisch gesehen, beispielsweise die Einführung von Eurobonds, mit denen Schulden vergemeinschaftet werden. Wieweit kann man Macron entgegenkommen?
Die Forderung Eurobonds einzuführen, ist nicht neu. Schon Sarkozy und Hollande haben sich dafür stark gemacht. Als Ausgangspunkt für Gespräche ist das als Position der einen Seite nachvollziehbar. Umgekehrt weiß Macron, dass er Deutschland jetzt nicht zu 100 Prozent dominieren kann. Jetzt Eurobonds einzuführen, halte ich für falsch. Genauso wie beim Vorschlag eines Einlagensicherungsfonds brauchen wir die richtige Balance. Beides sind Bausteine, die dazukommen, wenn alle ihre Hausaufgaben gemacht haben und die Neuverschuldung in der Eurozone bei allen unter drei Prozent liegt. Klar ist aber auch: Wir brauchen eine stärkere gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik, und alle müssen mehr tun, um die hohe Arbeitslosigkeit, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit, zu bekämpfen. Das dürfen wir nicht als regionale Aufgabe sehen, sondern müssen dies als europäische Aufgabe begreifen.

Die Euroskepsis ist auch in Deutschland groß. Ist ihre Partei, die CDU, bereit, eine Debatte für mehr Europa zu führen?
Wir haben am Beispiel Macron gesehen, dass man für Europa werben und damit Wahlen gewinnen kann. Die euroskeptischen Parteien in Deutschland haben gerade keine Konjunktur, sie sind innerlich zerrissen. Wann, wenn nicht jetzt sollen wir in Deutschland für ein stärkeres Europa werben? Ich wünsche mir einen Bundestagswahlkampf, bei dem für europäische Projekte geworben wird, nicht einen Wahlkampf gegen Europa. Ich denke, die nächste Bundesregierung muss aus dem Bremserhäuschen raus und mit Macron für mehr Europa eintreten.

Aber das Thema Europa kommt bei vielen Bürgern nicht an. Wie kann man das europäische Projekt besser vermitteln?
Das ist eine Aufgabe aller Entscheider, nicht nur des EU-Kommissars, sondern des Bürgermeisters, des Unternehmers, des Gewerkschaftsvorsitzenden, des Bundesministers. Alle müssen das Projekt Europa als ihr eigenes Projekt begreifen. Bisher wurden Erfolge nationalisiert oder regionalisiert und Misserfolge europäisiert. Diese Arbeitsteilung muss aufhören.

Haben sie noch irgendwo im Hinterstübchen Hoffnung, dass der Brexit abgewendet werden kann?
Ich bin mir sicher, dass die junge Generation in Großbritannien irgendwann einen Wiedereintritt diskutieren wird. Denn Großbritannien wird in der globalen Wirtschaft zu nichts anderem als zum "little England". Im Augenblick gibt es eine demokratische Vorentscheidung, die keine Regierung ignorieren kann. Aber vielleicht werden die Verhandlungen und die dann sichtbaren schmerzhaften Konsequenzen zu einem Umdenken führen, besonders in Nordirland und Schottland.

Die EU gibt sich ja momentan ziemlich hart, was den Verhandlungskurs betrifft. Ist das mehr als Theaterdonner?
Das ist notwendig. Wir müssen die Interessen der EU 27 vertreten. Wenn die Briten sich jetzt nach dem Ausscheiden besser stellen als davor, ist das doch schlimmste Rosinenpickerei. Frau May wird sich an dem Ziel, uns zu spalten, die Zähne ausbeißen.

Günther Oettinger
Der CDU-Politiker ist seit Anfang des Jahres EU-Kommissar für Haushalt und Personal. Zuvor war der 63-Jährige zwei Jahre lang Kommissar für die Digitale Gesellschaft und Wirtschaft, davor fünf Jahre lang Kommissar für Energie. Von 2005 bis 2010 war Oettinger Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg. (cul)

(Quelle: Freie Presse)