Knödel, Bier und Fremdenangst - Im Vorfeld der Parlamentswahlen in Tschechien am 21. Oktober 2017

Es war Sommer in Litomìřice, und der Vize-Bürgermeister hatte den Einwohnern der nordböhmischen Kleinstadt eine wichtige Mitteilung zu machen. „Der Burkini, diese Badebekleidung für muslimische Frauen, hat in den Freibädern unserer Stadt nichts zu suchen“, schrieb Karel Krejza in einer offiziellen Erklärung auf der Internetseite der Stadtverwaltung.

In Litomìřice, früher Leitmeritz, einer alten Bischofsstadt an der Elbe mit einem hübsch sanierten historischen Marktplatz, gibt es keine Muslime, die als solche zu erkennen wären. Frauen in Burkinis wurden dort noch nie gesehen. In ganz Tschechien aber entbrannte im Sommer die Debatte, als ein Besucher des Prager Erlebnisbades „Aquapalace“ ein Foto auf Facebook veröffentlichte, das zwei Frauen in dem Bad zeigt, die die muslimischen Ganzkörperbadeanzüge trugen. Die Betreiber des Aquaparks, den auch viele Touristen besuchen, versuchten zu beruhigen: Burkinis seien hygienisch einwandfreie Badebekleidung. Doch der Shitstorm war gewaltig. Sogar Tschechiens Staatspräsident Miloš Zeman äußerte sich in der Boulevardpresse. Er sehe keinen Grund, warum man das Tragen von Burkinis in Tschechien tolerieren solle, sagte Zeman. Man wisse nie, welche „Schweinereien diese Textilien beinhalten können“.

Einen Steinwurf entfernt vom Marktplatz in Litomìøice hat Hassan Mezian sein Büro. Der 70-Jährige sitzt für die sozialdemokratische Partei ČSSD im Senat in Prag, der oberen Kammer des tschechischen Parlaments. Mezian ist Syrer und kam in den 1970er-Jahren als Medizinstudent in die Tschechoslowakei. Heute ist er praktizierender Arzt, seit Jahrzehnten mit einer Tschechin verheiratet – und der einzige tschechische Parlamentsabgeordnete mit Migrationshintergrund.

„Wir sind die ewigen Opfer, schon immer gewesen. 1620. 1938. 1968.“

Mezian ist kein Mann der schrillen Töne. Er äußert sich behutsam und abwägend. Zu seiner religiösen Orientierung sagt er nichts; diese eigne sich nicht dazu, um Menschen zu beurteilen, sagt er. Doch auf die Frage, wie er sich heute als Flüchtling in Tschechien fühlen würde, findet er klare Worte: „Ich würde keine zwei Minuten hierbleiben.“

Tschechien ist ein ökonomischer Musterschüler Europas. Seit der politischen Wende 1989 und der Auflösung des Staatenbundes mit der Slowakei Ende 1992 geht es kontinuierlich bergauf. Die Wirtschaft wächst, im Staatshaushalt gab es zuletzt einen Milliarden-Überschuss. Die Arbeitslosigkeit lag im September bei 3,8 Prozent – so niedrig wie sonst nirgendwo in der EU. Es fehlen Arbeitskräfte im Land. Doch beim Thema Zuwanderung dominieren in Politik und Öffentlichkeit Skepsis und Ablehnung, erst kürzlich wurde das Ausländerrecht verschärft. Weniger als 1000 Menschen beantragten in Tschechien in diesem Jahr Asyl, gut 100 Personen wurden als politisch Verfolgte anerkannt.

„Wir haben hier nur zwölf Flüchtlinge“, sagt Mezian. Er meint damit die Menschen, die Tschechien im Rahmen des EU-Umverteilungsprogramms aus Italien und Griechenland aufnahm. Nach der in Brüssel vereinbarten Quote entfielen 1600 von 120.000 Schutzsuchenden auf das Land. Doch die Mitte-Links-Regierung in Prag beschloss, keine weiteren Migranten mehr aufzunehmen – und weiß dabei die übergroße Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. In einer Umfrage gaben vergangenes Jahr 52 Prozent der Befragten an, sie seien gegen jegliche Aufnahme von Flüchtlingen, weitere 26 Prozent sprachen sich lediglich für eine symbolische Anzahl von einigen hundert Menschen aus.

In Tschechien mit seinen gut 10,5 Millionen Einwohnern liegt die Ausländerquote bei 4,7 Prozent. Sie ist damit höher als in Sachsen, aber weniger als halb so groß wie in Gesamtdeutschland. Die größten Migranten-Gruppen stellen Ukrainer, Slowaken und Vietnamesen. Die Vietnamesen betreiben die Spätverkaufsstellen in Prag ebenso wie Lebensmittelläden in strukturschwachen Regionen auf dem Land. Etliche von ihnen sind ehemalige Gastarbeiter aus der DDR, die nach der Wende nicht in Ostdeutschland bleiben durften. Deren Integrationsleistung wird im Land inzwischen anerkannt. Strikte Ablehnung herrscht indes gegenüber Migranten aus muslimischen Ländern.

Es war im August 2016, als vermeintliche IS-Terroristen in Prag auf dem von Touristen viel besuchten Altstädter Ring für Panik unter den Passanten sorgten. Mitglieder der Initiative „Block gegen den Islam“ – als radikale Muslime verkleidet und mit Kamel und Militärfahrzeug ausgestattet – schwenkten eine IS-Flagge, riefen „Allahu akbar“, schossen in die Luft und erklärten, in Tschechien gelte jetzt die Scharia.

Im ganzen Land verbreitete die Gruppe ihre islamfeindliche Propaganda. Selbst in entlegenen Dörfern im Böhmischen Mittelgebirge konnte man an Verkehrsschildern Aufkleber mit dem Logo der durchgestrichenen Moschee finden. In Tschechien, dem atheistischsten Land Europas, wo sich nur jeder Fünfte für religiös hält, leben Schätzungen zufolge höchstens 10.000 bis 20.000 Muslime; in Prag und Brünn gibt es je ein muslimisches Gebetshaus. Das einzige „Minarett“ des Landes steht im Schlosspark Lednice in Südmähren. Tatsächlich ist es ein Aussichtsturm, errichtet vor 200 Jahren von einem österreichischen Fürsten – als Trotzsymbol, weil er keine Baugenehmigung für eine geplante Kirche bekam.

Der Kleinseitner Ring in Prag. Wenn Ivan Gabal aus dem Fenster seines Abgeordnetenbüros schaut, kann er viele Ausländer sehen – Touristen, die in den Restaurants unter den Kolonnaden sitzen und Selfies machen. Doch der Schein trügt. „Wir haben keine tieferen Erfahrungen mit einer national, ethnisch und religiös offenen Gesellschaft, weil wir in der kommunistischen Isolation gelebt haben“, sagt Gabal, der für die christlich-konservative KDU-ČSL im Unterhaus des tschechischen Parlaments sitzt. Seine Partei unterhält gute Kontakte zur CDU in Deutschland, verfügt aber gerade einmal über 14 von 200 Sitzen im Unterhaus und ist als kleinster von drei Koalitionspartnern an der Regierung unter Premier Bohuslav Sobotka (ÈSSD) beteiligt.

Gabal ist einer der wenigen, die sich in Tschechien positiv zum Thema Migration äußern. Die Politiker, sagt er, müssten den Mut finden, die Angst vor dem Unbekannten und dem Neuen zu überwinden. Statt dessen schrecke man vor Extremisten zurück. Es mangele an Ideen und Idealen. „Das ist vom Regierungsamt bis zur Prager Burg zu spüren.“

Es sind nichtstaatliche Organisationen wie „Človìk v tísni“ („Mensch in Not“), die sich hier um Aufklärung bemühen. Adéla Jurečková betreut das Migrationsprogramm in Tschechiens größter Entwicklungshilfeorganisation. Sie berichtet von einer großen Spendenbereitschaft, wenn es um Hilfe in der Dritten Welt geht. Ebenso groß sei die Skepsis allerdings bei der Flüchtlingsarbeit im eigenen Land. Die junge Frau verweist auch auf ein zumeist einseitiges und negatives Bild, das über Flüchtlinge in tschechischen Medien gezeichnet werde. So veröffentlichte eine unabhängige Journalistengruppe den Mitschnitt eines Gesprächs, in dem ein Redakteur des großen privaten TV-Senders Prima in der Redaktionssitzung explizit aufgefordert wurde, negativ über Migranten zu berichten.

Am 20. und 21. Oktober wird in Tschechien ein neues Parlament gewählt. Dabei darf die aktuell stärkste und an der Regierung beteiligte Partei Ano („Aktion unzufriedener Bürger“) erneut auf einen Sieg hoffen. Die liberal-populistische Kraft des Chemie- und Medienunternehmers Andrej Babiš, des zweitreichsten Tschechen, kommt nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Median aktuell auf 27 Prozent – trotz Korruptionsvorwürfen gegen Babiš. Wegen Betrugsverdachts bei EU-Subventionen für ein Wellness-Ressort in Südmähren ermittelt nun auch die Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen Finanzminister.

Hinter Ano folgen in den Umfragen die sozialdemokratische ČSSD mit 14 Prozent, die Kommunisten mit 13 und die liberal-konservative ODS mit 10 Prozent. Der Anteil der unentschlossenen und der Wechselwähler sei jedoch extrem hoch, sagt Daniel Prokop vom Institut Median.

Die Top-Themen im Wahlkampf sind nach seinen Worten die niedrigen Löhne – und die Überschuldung vieler privater Haushalte. „Eine Million Tschechen haben den Gerichtsvollzieher am Hals“, berichtet Prokop. Die Flüchtlingsfrage, die in Deutschland die Bundestagswahl dominierte, sei in Tschechien höchstens ein Randthema, da sich hier alle Parteien fast gleichermaßen ablehnend und xenophob positionierten. „In Tschechien“, sagt Prokop, „kann man die Wahlen mit dem Thema verlieren, aber nicht gewinnen.“

Die Tschechen und ihr Verhältnis zu anderen Nationen und Kulturen: Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš erzählt in seinem aktuellen, auch auf Deutsch erschienenen Roman „Nationalstraße“ die Geschichte eines Mannes, der als junger Polizist zum Helden der Samtenen Revolution vom November 1989 wurde. Ein Vierteljahrhundert später lebt er immer noch in der Plattenbausiedlung im Norden Prags – als Wendeverlierer. Ein einsamer Schläger, der „Böhmen den Tschechen“ fordert.

Es ist der Monolog eines Außenseiters, der dennoch recht gut die tschechische Mentalität und die historisch begründete Fremdenangst beschreibt. „Wir haben unter den Österreichern gelitten, wir haben unter den Deutschen gelitten und wir haben unter den Russen gelitten“, heißt es dort mit Verweis auf Dreißigjährigen Krieg, Münchner Abkommen und die Niederschlagung des Prager Frühlings. „Wir sind die ewigen Opfer, schon immer gewesen. 1620. 1938. 1968.“ Tschechischer Humor, so schreibt Rudiš, das sei der „böhmische Vierkampf“ – Schweinebraten mit Knödeln, Sauerkraut und Bier. Und Frieden nur eine Pause zwischen zwei Kriegen. Sein Romanheld drückt die Angst vor dem Fremden, das näher rückt in der globalisierten Welt, mit den Worten aus: „Ich weiß, was läuft. Ich spüre, wie unser Europa wackelt.“

Im wahren Leben in Prag beschreibt der Abgeordnete Ivan Gabal die Situation ganz ähnlich: „Die Tschechen akzeptieren Migranten“, sagt er. „Aber erst, wenn sie mit ihnen Bier trinken und Schweinebraten mit Knödeln essen.“

(Quelle: Deutschlandfunk Kultur)