Schüler gehen versunkener Stadt auf den Grund

Die Grenze zwischen Sachsen und Böhmen ist eine der ältesten in Europa. Und dennoch hat sie nicht nur getrennt. Die Menschen diesseits und jenseits des Erzgebirgskamms standen immer miteinander in Verbindung und haben eine gemeinsame Geschichte. Vieles davon ist inzwischen verschüttet oder aus dem Bewusstsein verschwunden. Und genau hier setzt ein Projekt der Gymnasien in Annaberg-Buchholz und Kadan an. Schüler aus Sachsen und Böhmen erkunden die gemeinsame Geschichte, arbeiten und diskutieren zusammen und vor allem: Sie schauen voraus.

„Wir haben uns für drei Tage in Kovarska, dem ehemaligen Schmiedeberg, getroffen, um gemeinsam ein Geschichtsprojekt anzugehen“, sagt Veronika Kupkova. Die 30-Jährige ist Lehrerin für Englisch, Geografie und Sozialkunde am Kadaner Gymnasium und hat das Schülerprojekt mit ihrer deutschen Kollegin Daniela Hilscher von der Evangelischen Schulgemeinschaft in Annaberg organisiert. Gemeinsam wollen sie die Geschichte der Grenzregion erkunden. „Wir haben uns als Thema die alte Bergstadt Preßnitz vorgenommen. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes untergegangen. Da, wo früher die Leute durch die Gassen liefen und ihren Alltagsgeschäften nachgingen, ist heute ein großer Stausee.“ Und obwohl die Talsperre erst in den 1970er Jahren entstanden sei, wüssten heute schon viele nicht mehr, dass auf ihrem Grund einmal eine Stadt war.

Selbst die historisch enge Verbindung zwischen Deutschen und Tschechen sei vielen nicht mehr bewusst, sagt Kupkova. „Manche meiner Schüler staunen, wenn ich ihnen erzähle, dass vor dem Krieg in Kadan fast nur Deutsche gelebt haben. Deshalb spielt auch das Thema Vertreibung in unserem Projekt eine große Rolle.“ Und hier zeigt sich, dass die Themen Flucht und Vertreibung in den vergangenen Jahren an Brisanz verloren haben. Auch in Tschechien räumt man mittlerweile ein, dass den Deutschen nach dem Krieg viel Unrecht widerfahren ist. Und die Deutschen haben begriffen, dass sie nicht nur Opfer, sondern auch Täter waren.

Die Schüler aus Kadan und Annaberg sind von dieser Vergangenheit unbelastet. Deshalb war es für sie umso spannender, einen deutschen Zeitzeugen zu hören, der in der Nähe von Preßnitz wohnte und nach dem Krieg vertrieben wurde. Dabei merkten sie, dass sich das Leben auf beiden Seiten der Grenze nicht wesentlich unterschied. Mit ihren Lehrerinnen erforschten sie die Geschichte der Bergstadt, stöberten in Dokumenten und Fotos.

Bei einer Exkursion zum Stausee besuchten sie die unter der verschneiten Eisfläche schlummernde Stadt. Verschiedene Arbeitsgruppen beschäftigten sich mit der Geschichte der Bergstadt Preßnitz. Die Schüler forschten zu Themen wie Bildung und Erziehung, wirtschaftliche Verhältnisse, Kultur und Musik oder Tradition und Volkskunde. „Am Anfang fand ich das eigentlich nicht so spannend“, sagt Laura-Marie. Aber je mehr sie sich damit beschäftigt habe, umso begeisterter sei sie geworden. „Am besten an dem Projekt finde ich, dass wir jetzt Freunde in Tschechien haben“, fasst ihre Mitschülerin Almut den dreitägigen Workshop zusammen. Das sieht auch Antonin aus Kadan so: „Ich interessiere mich für Geschichte und lerne gerne andere Leute kennen. Also für mich ist das Projekt ideal.“

Die Ergebnisse ihrer Arbeit wollen die Schüler zur Grundlage für Informationstafeln machen, die in Zukunft rund um den Stausee aufgestellt werden sollen. Die Entwürfe der acht bis zehn Tafeln werden das erste Mal am 23. Juni in der Aula des Annaberger Gymnasiums präsentiert. Spätestens dann sehen sich die Schüler wieder. Und es ist bestimmt nicht das letzte Mal.

(Quelle: Freie Presse)